Die blaue Stunde hat geschlagen
Die surreale, der Rationalität entfliehende Kunst ist noch da. Der Park aus sinnfreien Betonkonstruktionen steht noch im unwegsamen Urwald, nur wurde er zweckentfremdet. Er hat jetzt Sinn, strebt ganz real und rational danach, Umsatz zu machen. 100 000 Besucher schauen sich jedes Jahr James Garten Eden an.
Kurz gelingt es mir doch: Was ein Leben das gewesen sein muss. So reich und so frei, dass er sich wie ein Kind verhalten konnte, das kein Bock auf Verantwortung hat. Sodass er nur noch Sachen machte, die keinen Sinn ergaben. Als wollte er sich selbst vor Augen führen, wie absurd diese Welt ist. „Ich glaube, ich lasse 150 Arbeiter zwanzig Jahre lang Wendeltreppen, die in den Himmel führen, in den Urwald bauen und lasse sie dann verrotten.“
50 Jahre später kaum vorstellbar, wo schon die 16-Jährigen so viel Verantwortung empfinden, dass sie die Politiker lehren, wie sie ihren Job zu machen haben und gegen ihre Eltern rebellieren, wenn die in den Urlaub fliegen wollen.
Aber wenn ich schon nicht mehr fliegen darf, dann lasst mich wenigstens durch die Zeit reisen. Alles ist besser als Teil dieser Plage zu sein. Wie wär’s mit dem Paris der 30er Jahre, wo all die Dinge ihren Anfang zu haben scheinen, die wir bis heute bewundern, aber nicht mehr erschaffen können.
Heute, immer den Schmetterlingseffekt des eigenen Handelns vor Augen, drückt jeder Coffee to go aufs Gemüt. Wir nutzen die Ressourcen von 1,6 Erden im Jahr, wenn alle lebten wie die Deutschen bräuchten wir 3,1.
Diese Situation haben wir auch den exzentrischen Europäern von Früher zu verdanken, die sich nahmen, was ihnen gefiel und nichts zurückgaben.
Wie unverantwortlich! Was James alles mit seinem Geld hätte bewegen können, wenn er es für sinnvolle Dinge genutzt hätte.
In unserer Welt sind Exzentrik und Maßlosigkeit Schimpfwörter. Verzicht und Mäßigung sind die Federboas, mit denen wir uns heute schmücken. Alles richtig, alles wichtig.
Aber wie schön muss es gewesen sein, ohne diese globale Last auf den Schultern. Sein ganzes Leben der Ästhetik widmen, den Sinnen frönen und schlussendlich nur so die Meisterwerke erschaffen, die wir noch Heute bewundern. Einfach zu tun, wonach einem der Sinn steht, weil man eben kann. So beneidenswert wie unmoralisch.
Angel lässt eine fingerkuppengroße Ameise auf seinen Arm krabbeln und erklärt, dass ihr Stich wahnsinnig weh täte und den ganzen Arm anschwellen lasse.
Der pockennarbige Grobian erzählt, wie er mal von einer Ameise in Guatemala gestochen wurde. Mensch klasse! Und was ist dann passiert?
Der Rest der Gruppe starrt teilnahmslos auf Bildschirme und sucht nach dem Selfie, auf dem nur Skulptur und keiner der anderen Besucher im Hintergrund steht. Schwierig.
Wie eine Anakonda drückt sich die nicht aufhörende Menschenschlange über die kleinen Wege durch den Park.
Angel bleibt bei einem Stein, auf dem kleine Moose und Pilze sprießen, stehen und erklärt, dass James Dinge wie diese Stundenlang beobachtete, jedes kleinste Detail in sich aufgesaugte und sich kaum eingekriegt habe vor Begeisterung für die Wunder der Natur.
Die Rothaarige macht ein Foto, quietscht vor Entzückung und läuft weiter. Für die Details begeistert sie sich später, Zuhause, sie hat sie ja jetzt digital.
Muss man es respektieren, wenn ein Künstler will, dass sein Werk sich selbst überlassen wird? Oder wiegt das Interesse der Allgemeinheit schwerer? Hat man den Park überhaupt erhalten, wenn man ihm seinen Zauber genommen hat? Und ist das wichtig, muss er noch der Selbe sein? Ist es vielleicht sogar ok, wenn er für manche einfach ein schöner Selfie-Hintergrund ist und nicht mehr L’art pour l’art der Surrealisten? Ist das Selfie vielleicht sogar die sinnfreie Kunst von heute?
Mag schon sein. Aber trotzdem: Der Tourist schafft es mal wieder, das zu zerstören, was er sucht, indem er es findet.
Das Schlimmste ist das Gefühl, Teil des Problems zu sein. Auch mit schickem Presseausweis, „aber ich wohne hier“ - Argument und zynischem Text danach.
Ich versuche eine von Angels zehn Prozent zu sein, die den Park sehen wie er einmal war, eine von denen, für die es sich lohnt.
Nach der Führung ziehe ich mich auf den höchsten Punkt des Parks zurück. Vor mir „La Torre de Esperanza“ - der Turm der Hoffnung. Wendeltreppen, die in den Himmel führen und Säulen, die Bambus imitieren. Dahinter ein Meer aus schwülem, sattem Grün. Viel Hoffnung macht mir der Turm in dieser gewaltigen Szene trotzdem nicht.
Ich versuche die schnaufenden, obwohl atmungsaktiven Neonshirts, die hier hochkeuchen zu ignorieren. Doch sie leuchten greller als das Grün und ihre Gespräche sind lauter als der Wald.
Als der schottische Mäzen Edward James, von Beruf Sohn, in den 60ern begann einen surrealistischen Park in den mexikanischen Urwald bei Xilitla zu bauen, war die Welt der reichen Europäer noch in Ordnung, denn sie gehörte ihnen. Waren sie verrückt, hießen sie exzentrisch, so auch James.
Der Patensohn von Eduard VII., dem späteren König Großbritanniens, wandte sich früh von der Gesellschaft der steifen britischen Aristokraten ab und amüsierte sich lieber in Künstlerkreisen. René Magritte lebte in James’ Haus in London, Salvador Dalí ein Jahr lang auf seine Kosten. Das Lippensofa und das Hummertelefon sollen als Auftrag von James an Dalí entstanden sein. Zu Lebzeiten galt seine Kollektion surrealistischer Kunst als die beste private Sammlung weltweit.
1945 reiste James zum ersten Mal nach Mexiko, um Freunde in Cuernavaca zu besuchen. Dort traf er Plutarco Gastélum, der im örtlichen Telegrafenamt arbeitete und James’ ewige Briefe sendete. Laut Gastélums Enkelin Luisa Cabrera gefiel James, der alles Schöne liebte, anfangs vor allem das Äußere ihres Großvaters. Ein schwules Paar, wie oft behauptet, seien die beiden jedoch nie gewesen. Unzertrennlich wurden sie trotzdem. James bat dem schönen Gastélum einen Job als seine rechte Hand an, Gastélum willigte ein, verließ das Telegrafenamt und unterstütze den reichen Schotten auf der Suche nach seinem persönlichen Garten Eden.
Auch nachdem die beiden Xilitla fanden, riss ihre Freundschaft nicht ab. Gastélum baute sich ein Haus im Ort, heiratete, bekam vier Kinder und James wurde ihr Patenonkel. Wenn er seinen Skulpturengarten besuchte, schlief er bei den Gastélums. James, Onkel Edward, war Teil der Familie.
Am Eingang des Gartens begrüßen Stände mit wasserfesten Slippern und Handyhüllen, durch die man fotografieren kann, die Besucher. Ist man einmal drin, begrüßt Miguel Angel, den ich in meinem Kopf nur Michelangelo nenne, mit seiner ruhigen Präsenz, die in dem Gewusel aus Hereinströmenden bitter nötig ist.
Angel ist der Sohn der ehemaligen Köchin und des ehemaligen Chauffeurs von James und verbrachte als Kind viel Zeit mit dem exzentrischen Schotten.
Als er das erzählt, physisch und akustisch eingeklemmt zwischen zwei anderen Gruppen, hört nur die Hälfte der 16 Teilnehmer zu. Ein pockennarbiger grober Typ macht ambitionierte Fotos von seiner rothaarigen Angebeteten. Mit ein bisschen Skulptur im Hintergrund und passenden Handzeichen: Daumen hoch, Peace-Finger, zwei Daumen hoch, eine Hand in der Hüfte.
Der Rest der Gruppe? Das sind vier Paar wasserfeste Slipper, ein paar Crocs, ein paar verbrannte Oberschenkel und zehn gezückte Smartphones.
Las Pozas? Das sind Wendeltreppen, die ins Nirgendwo führen, filigrane Säulen, die Rundbögen tragen, Brunnen in Form von Lilienblüten, ein Zaun aus Betonstreben, der den Bambus imitiert, der für seine Konstruktion gefällt werden musste. Alles überwuchert von Moosen und Schmarotzerpflanzen, die die Konstruktionen mit den umliegenden Bäumen verwechselt haben.
Kleine Wege, Treppchen, Brücken und Rampen, die durch den dichten Urwald führen und die 34 Konstruktionen mit den Wasserfällen und -becken, die sich durch den Park schlängeln, verbinden.
Das alles im tropisch schwülen Klima des feuchtesten Ortes San Luis Potosis in der bergigen Landschaft der Sierra Madre Oriental. Eine Mischung aus Traumland, LSD-Trip und der leisen Angst vor der nächsten Durchfallerkrankung.
Das Terrain des Parks ist mindestens genauso lebensfeindlich wie fruchtbar. Hier zu bauen ist reiner Irrsinn. Eine Hommage an die Ästhetik, die jeden Sinn für das Praktische vergisst.
Gibt es etwas diametral Gegensätzlicheres als die wasserfesten Slipper seiner Besucher? Bequem, wasserabweisend, atmungsaktiv. Lieber in neongrün oder pink? Hauptsache hässlich.
Was ist nur aus uns geworden? Eine Gesellschaft, in der jeder Gegenstand und jede Handlung einen Zweck erfüllen muss, um existieren zu dürfen.
Wenn ihn jemand gefragt habe, warum er diese Säule mitten in den Weg gebaut hat, habe James „Warum nicht?“ geantwortet, erklärt Angel.
Parks wie der James’ faszinieren uns bis heute, sie haben dieses gewisse je ne sais quoi, für das wir heute keinen Namen mehr finden, weil sie aus einer Motivation entstanden sind, die wir heute weder verstehen, noch gutheißen können - Sinnfreiheit und Größenwahnsinn.
Wir studieren die Werke der Vergangenheit wie das Verhalten einer anderen Spezies: Diese Spinne frisst ihren Partner nach dem Koitus, Schloss Versailles hat 1800 Räume, aber keine Toilette.
Faszinierend, aber nicht nachvollziehbar.
Heute würden wir weder unsere Sexualpartner essen, noch hinter Vorhänge kacken.
Das Geschaffene hat so viel mit uns zu tun wie der Weltraum oder die Tiefsee, spannend aber nicht (mehr) inspirierend.
Denn im Heute gibt es keine Zeit, keinen Platz und keine moralische Rechtfertigung, um zu tun, was sie damals taten.
Wir sind so viele, es scheint zu eng zu werden für unnütze Schwärmereien der Sinne.
Edward James wollte nie, dass die Öffentlichkeit Zugang zu seinem Garten bekommt. Er wollte ein Shangri La erschaffen, einen Garten Eden, eine Emulsion aus Kunst und Natur. Er wollte zwanzig Jahre lang mit 150 Arbeitern auf neun Hektar unwegsamer Urwaldfläche einen Skulpturengarten bauen, um ihn dann von der Natur zurückerobern, ihn verfallen zu lassen.
Doch so viel Sinnfreiheit kann im Zeitalter der Zweckmäßigkeit nicht akzeptiert werden. Erst starb James ‘84 dann sein Partner Gastélum ‘91. Seine Kinder wollten das Erbe ihres Onkels Edward nicht der Natur zurückgeben, also öffneten sie den Park für Besucher und begannen zu restaurieren, was die Pflanzen rechtmäßig zerstörten.
„Man bemerkt die Veränderung gar nicht während sie stattfindet. Erst später wird man sich bewusst, wie anders alles riecht und klingt“, erklärt Angel. Zehn von hundert Menschen, die er durch den Park führt, blenden das Gewusel aus und sehen „Las Pozas“ wie James und er es gesehen haben, sagt er. Für die lohne es sich, auf die fokussiere er sich.
Genau wie James, der habe sich auch immer von überall den Teil mitgenommen, der ihm gefallen hat. Symbolik aus allen Weltreligionen und Pflanzen von allen Kontinenten findet man im Garten.
Die Tiere, die James hier hielt, sind nicht mehr da. Nur die beiden Krokodile St. Peter und St. Paul liegen noch im Park begraben. Die Ozelote, Flamingos, Schildkröten und Hirsche, die hier frei herumliefen, wurden an Nationalparks weitergegeben.
James pflegte auch kranke Tukane, Papageien und zig andere Vogelarten gesund und ließ sie dann frei. Laut Angel blieben sie trotzdem bei ihm, umschwirrten ihn, wenn er vor Sonnenaufgang auf dem Dach einer seiner Konstruktionen saß und mit ihnen in einem Meer von Glühwürmchen darauf wartete, dass sich die blauen Berge grün färbten.
30.09.2019
Die Sonne geht gleich auf und die Berge sind blau, der Nebel zwischen ihnen grau. Die Bäume wachsen so dicht und die Luft drückt so feucht wie auf Jurrasic Parks Insel und auch hier trügt die Idylle, versteckt der Dschungel, was in ihm lauert.
Es ist Montagmorgen, 8:30 Uhr und das Ende der Besucherschlange ist nicht zu sehen, dabei ist noch nicht mal offen.
Ich dachte an einem Montag kann man dem Gefühl, Teil des Problems zu sein, ganz gut entgehen. Aber es ist Hochsaison in Xilitla, San Luis Potosi, Mexiko. Für den surrealistischen Skulpturengarten „Jardín Escultórico de Edward James, Las Pozas“ bedeutet das an die 8000 Besucher täglich.
Wir sind zu viele. Das Gleichgewicht ist aus dem Ruder geraten und der „Circle of life“ eiert gewaltig. Wir sind Mutter Erdes Krebs, der längst gestreut hat. Und jetzt ist das Privileg zu Reisen auch noch zum Allgemeingut geworden. Als hätte man den Krebszellen kleine Düsenantriebe angeschnallt.
Als der Park seine Tore öffnet, fängt der Boden an zu zittern, Echsen und Schlangen flitzen unter Steine, genau wie der Zauber, der diesem Ort mal innewohnte.
Ich habe einen Garten Eden im Mexikanischen Dschungel gesucht und eine überlaufene Touristenattraktion gefunden. Unterwegs bin ich zwischen damaliger Exzentrik und heutiger Zweckmäßigkeit verloren gegangen. Am Ende ist das Kind in den Brunnen gefallen.
Die blaue Stunde hat geschlagen
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